Lassalle und die Gründung des ADAV

Nach dem Rückschlag der bürgerlichen 48er Revolution kam es in Deutschland zunächst zu einer reaktionären Wiederherstellung des alten Systems. Zum Beispiel wurden die vorhandenen Ansätze eines Zusammenschlusses von Arbeitern wie der Kommunistische Bund und die sog. Arbeiterverbrüderung 1852 bzw. 1854 verboten. In den 50er Jahren kam es dann aber zu einer Renaissance der liberalen Ideen, in Preußen organisiert durch/in der Fortschrittspartei, die auf der einen Seite das Ziel der nationalen Einheit verfocht und auf der anderen Seite eine Entwicklung analog zu den west-europäischen parlamentarischen Demokratien verfolgte. Das Ideal dieser Form des Liberalismus war der freie, sich allein verantwortliche und der Mehrheit verpflichtete Mensch, allerdings auf der Basis der Erkenntnis, dass formale Rechtsgleichheit nichts ist ohne eine angemessene Beteiligung der unteren Schichten an den materiellen Gütern.

Preußens Politik entsprach diesen liberalen Ideen jedoch nicht.  Die Heeresreform des Kriegsministers Roon zielte denn auch mehr nach innen als nach außen, u. a. indem sie die letzten freiheitlichen Reste der preußischen Heeresreform von 1810 beseitigte Zum Verfassungsbruch kam es schließlich 1862, als der König sich nach zweimaliger Ablehnung seiner Heeresvorlage über die Entscheidung des Parlamentes hinwegsetzte und den Vertreter des pommerschen Adels – Otto von Bismarck –als preußischen Ministerpräsidenten und Außenminister einsetzte. In dieser Situation suchte Lassalle nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit dem organisierten Liberalismus gegen das monarchische Prinzip des Staates – allerdings ohne Erfolg. Daraufhin änderte er sein Vorgehen mit Hilfe einer zweigleisigen Taktik:  Zum einen wollte er mit den Vorträgen über das Verfassungswesen[20] mögliche bürgerliche Anhänger gewinnen, und auf der anderen Seite wandte er sich direkt in Berliner Bezirksvereinen an Arbeiterversammlungen.

Foto der Delegierten und Gäste unmittelbar vor der Gründung des ADAV am 23. Mai 1863

Im Jahr 1862 kommt es zu einer folgenreichen Begegnung mit Leipziger Arbeitern auf Initiative des Fabrikanten Ludwig Loewe. Einige dieser Arbeiter – unter ihnen der junge Drechslermeister August Bebel – hatten den Arbeiterverein Vorwärts aus dem liberalen gewerblichen Bildungsverein Leipzig abgetrennt, woraus schließlich das Central-Comitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Congresses hervorging. Friedrich Wilhelm Fritzsche[21], Julius Vahlteich und Otto Dammer unterschrieben einen Aufruf an Lassalle mit der Aufforderung, die Führung der Arbeiterschaft zu übernehmen. In seiner vertraulichen Antwort verwies Lassalle auf sein Buch Das System der erworbenen Rechte und schloss mit den Worten: „Ich halte mich somit imstande, den Anforderungen des Platzes zu entsprechen, den Sie mir anbieten und erkläre mich daher im Allgemeinen bereit….die Führung der Arbeiterbewegung in die Hand zu nehmen.“ Hierauf folgt noch das sog. Offene Antwortschreiben in Form einer mitsteno­graphierten Rede auf dem Arbeiterkongress vom 1. März 1863.[22]

In dieser Rede rechnet er noch einmal mit seinem liberalen Widersacher Hermann Schulze-Delitzsch[23] ab, dessen Gedanken zur Genossenschaft er jeglichen Nutzen für die Arbeiter abspricht (weil für die [kleinen] Gewerbetreibenden gedacht), und fordert die Gründung einer Partei mit dem Ziel der Erlangung eines allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts; mit dieser Forderung entspricht er dem Reichswahlgesetz des Frankfurter Parlaments vom 12. April 1849. In dieser Rede bezieht sich Lassalle auch auf die ihm vorliegende Einkommensschätzung des preußischen Finanzministers von 1862, wonach etwa 72 Prozent der durch­schnittlich fünfköpfigen Familien über ein Jahreseinkommen von weniger als hundert Talern verfügen[24] und 0,5 Prozent der Familien über ein solches  von mehr als tausend Talern[25]. Zum Vergleich sei angefügt, dass ein preußischer Betriebs-Inspector[26] 1862 über ein Jahreseinkommen von etwa 1.250 Talern verfügte. Lassalle ließ sein Offenes Antwortschreiben als quasi offizielles Manifest für eine Arbeiterpartei, in 12.000 Exemplaren nachgedruckt, gegen Zahlung eines Silbergroschens unter Arbeiter etc. bringen. In einem Punkt war dieses Manifest durchaus erfolgreich: Das Zentralkomitee zur Einberufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses in Leipzig 24. März 1863 erklärte mit großer Mehrheit seinen Entschluss, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zu gründen. Gegründet wurde der ADAV dann am 23. Mai, wobei insgesamt elf Städte vertreten waren. Als erster Präsident des ADAV wurde Lassalle gewählt.

Die Gründung des ADAV ist in der historischen Betrachtung ein wichtiger Meilenstein. Spätestens auf dem Vereinigungs-Parteitag in Gotha am 22. Mai 1875 erfolgte der vorletzte Schritt zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1890 (nach Fall des Sozialistengesetzes). Bei Betrachtung der Schwierigkeiten, denen sich Lassalle gegenübersah, muss berücksichtigt werden, dass es zu Beginn der 60er Jahre in Preußen ca. 0,77 Millionen in der Industrie beschäftigte Arbeiter gab (verglichen mit 1,1 Mio. Handwerkern/3,43 Mio. in der Landwirtschaft Beschäftigten). Bis 1907 stieg die Zahl der Arbeiter auf 5,65 Millionen (entsprechend Preußen in den Grenzen 1866).




[20] Über Verfassungswesen, in: Ferd. Lassalles Reden und Schriften, hrsg. von E. Bernstein, Bd. 1, Berlin 1892, S. 463 - 498, sowie Was nun?, aaO. S. 499  – 535.

[21] Fritsche war Zigarrenmacher und kannte wahrscheinlich den 1846 in Bremen von Zigarrenmachern  gegründeten Arbeiterbildungsverein Vorwärts.

[22] Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiter­kongresses zu Leipzig, in: Ferd. Lassalles Reden und Schriften, hrsg. von E. Bernstein, Bd. 2, Berlin 1893, S. 393 – 455.

[23] Hermann Schulze-Delitzsch, Leipziger Burschenschafter, Begründer der Genossenschaft als unternehmerische Rechts­form,  1861 Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei, seit 1867 Abgeordneter im Reichstag des Nord­deutschen Bundes, von 1871 bis 1883 Reichstagsmitglied des Deutschen Kaiserreichs.

[24] Entspricht einem Jahreseinkommen < 2.400 €.

[25] Entspricht einem Jahreseinkommen > 24.000 €.

[26] Im Sprachgebrauch des ausgehenden 19. Jahrhunderts handelt es sich um einen Angestellten mit Führungs-Verantwortung in der 3. Linie unterhalb der Direktions- und der Prokuristen-Ebene.