Lassalle zitieren und Lassalle lesen: zwei durchaus verschiedene Dinge!

Die Kolumne “Lassalle und das Recht auf Eroberung“, erschienen in der Zeitung "Junge Freiheit" am 6.12.2014 bedarf einer Kommentierung durch den stellv. Bundesvorsitzenden des Lassalle-Kreises Manfred Blänkner:

Stefan Scheil, Vorstandsmitglied der AfD im Kreisverband Rhein-Pfalz und seit 2014 AfD-Vertreter im dortigen Kreistag, Autor des zur „Neuen Rechten“ zählenden „Instituts für Staatspolitik“, zitiert eine Passage aus Lassalles 1859 in Berlin erschienener Schrift „Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens“ (Nachdruck in: Ferd. Lassalles Reden und Schriften. Neue Gesamtausgabe, hrsg. von Ed. Bernstein, Berlin 1892,S. 291-364, Zitat auf S. 305) Was will er damit sagen? Will er Lassalle vereinnahmen als Rechtfertigung für Eroberungspolitik?


Ferdinand Lassalle, Bild: Thomas GollerÜber die Haltlosigkeit der zitierten Lassalleschen Vorstellungen müssen wir nicht reden. Was Scheil „vergessen“ hat: Solche Vorstellungen waren weitverbreitete Meinung des 19. Jahrhunderts. Die Vorstellung eines den Völkern je eigenen „Volkgeistes“ geht zurück auf Hegels Philosophie der Weltgeschichte, derzufolge in den jeweiligen Entwicklungsstadien des „Weltgeistes“ einzelne Völker Träger des geschichtlichen Fortschritts sein sollen. Gegenüber diesen Fortschrittsträgern hätten die „geschichtslosen Völker“ kein Recht auf eigene Staatlichkeit, sondern würden im Verlauf des geschichtlichen Prozesses unterdrückt, um schließlich assimiliert zu werden oder gänzlich zu verschwinden.

Wenn Scheil im Sinn hatte, für Chauvinismus und Großmachtstreben einen Kronzeugen aus der Arbeiterbewegung zu bemühen, wäre eher Friedrich Engels ein geeigneter Autor gewesen. Der formulierte nämlich solche Vorstellungen in seinen Aufsätzen in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ weit krasser als Lassalle. Sofern die „geschichtslosen Völker“ überhaupt politisch agierten, geschehe das, so Engels, stets auf der Seite der Konterrevolution, wie das Beispiel der südslawischen Völker zeige: „Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedes Mal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Konterrevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist. (Der magyarische Kampf, in: MEW 6, S. 172). Gegenwärtig seien Deutsche, Ungarn und Polen „Träger des Fortschritts“ und daher „revolutionär“ (S. 168), und „die anderen großen und kleinen Stämme und Völker haben … die Mission, im revolutionären Weltsturm unterzugehen“ (ebd.).

Wie wenig sich Engels um moralische Kategorien scherte, zeigt sein Kommentar zum amerikanisch-mexikanischen Krieg 1846-48. Er fragt, ob es „etwa ein Unglück (sei), dass das herrliche Kalifornien den faulen Mexikanern entrissen ist, die nichts damit zu machen wussten? (…) Die ‚Unabhängigkeit‘ einiger spanischen Kalifornier und Texaner mag darunter leiden, die ‚Gerechtigkeit‘ und andere moralische Grundsätze mögen hie und da verletzt sein; aber was gilt das gegen solche weltgeschichtliche Tatsachen?“ (Engels, Der demokratische Panslawismus, in: MEW 6, S. 273f.)
Daneben ist Scheils Bemerkung zu den Tschechen. Nichts davon findet sich bei Lassalle, nichts von fehlender Assimilierung „unter österreichischer Führung“, nichts von einem Sovorsichhinleben „volksgeistig gesehen in einer Wüste“. Lassalle ruft vielmehr „Böhmens erstickten Volksgeist“ an und fragt: „Was ist aus diesem Lande, der Mutter des Protestantismus, der Wiege der Hussitenkriege, der Geburtsstätte des dreißigjährigen Glaubenskampfes, was ist nach einem vielhundertjährigen Besitz aus ihm geworden? (…) ein Land ohne Literatur, ohne geistiges Leben, (…) ein erstickter, zerknickter Volksgeist! So zivilisiert Österreich!“ (Lassalle, Der italienische Krieg, aaO. S. 307).

Daneben ist auch Scheils eigene Antwort auf seine polemische Frage: „Was hätte Lassalle zu den moslemischen Heeren in Spanien gesagt?“ Hätte er sich nicht an Lassalles verfehltem und zeitbedingten Zitat politisch aufgegeilt, sondern dessen Ausführungen nur wenige Zeilen zuvor gelesen, wäre ihm diese absurde Frage nicht in den Sinn gekommen. Frankreich, so schrieb Lassalle, habe „in der Zeit großer französischer Blüte und tiefer deutscher Stagnation … Elsass-Lothringen an sich reißen und diese Eroberung durch einen noch größeren Aufschwung in der Revolution am Ende des vorigen Jahrhunderts sich assimilieren können“, und es sei „unhistorisch und unmöglich …, jene Provinzen von Frankreich wiedergewinnen zu wollen. Mit dieser einzigen Einschränkung also … muss das Prinzip der freien Nationalitäten begriffen werden; sonst hört es auf, ein Prinzip zu sein und treibt sich zum Unsinn. Sonst könnten, wie gesagt, wir von Frankreich den Elsass, Slaven und Wenden von uns Schlesien, Preußen, die Elbufer etc. wieder fordern. Ja, die germanischen Stämme müssten wieder nach Asien heimkehren, um den germanisierten Boden ich weiß nicht welchen Autochthonen zu überlassen.“ (Lassalle, Der italienische Krieg, aaO., S. 305f.).

Lassalle zitieren und Lassalle lesen: zwei durchaus verschiedene Dinge!