Warum sind Korporationen in der öffentlichen Meinung so umstritten?

Warum eigentlich haben studentische Korporationen in der kritischen demokratischen Öffentlichkeit ganz allgemein den zweifelhaften Ruf, nicht nur elitär, sondern auch stark rechtslastig zu sein? Eine aktuelle Antwort darauf geben immer wieder jene  Burschenschaften, die dem als rechtsextrem geltenden Verband der Deutschen Burschenschaft angehören: Ihre Mitglieder, die nach eigenem, blauäugigen Bekunden deutschstämmig und wehrhaft sein müssen, singen stolz – und wohl nicht viel anders als einst die braunen Horden des NS-Staates – „Deutschland, Deutschland über alles ... von der Etsch bis an den Belt“, so als ob sie noch nie etwas von der verhängnisvollen alldeutschen Großmannssucht zu Kaiser Wilhelms und zu Hitlers Zeiten gehört hätten. Da überzeugt auch das Lippenbekenntnis zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, deren Geltungsbereich nach zwei verheerenden Kriegen deutlich geschrumpft ist, wenig!

Aber sind alle Korporationen wirklich so schlimm? Immerhin haben Studenten, seit es Universitäten gibt, – mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen ‑ Gemeinschaften gebildet. Die heutigen Korporationen, von denen die ältesten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die meisten jedoch erst nach 1871 gegründet wurden, berufen sich gerne auf die gegen Fürstenwillkür, Kleinstaaterei, Zensur und Spießertum gerichtete Tradition des Wartburgfestes von 1817 und des Hambacher Festes von 1832, obwohl diese Tradition mit dem Scheitern der Revolution von 1848 ein jähes Ende fand.

Viel zu kurz kommen jedoch in der eigenen Selbsteinschätzung die prägenden Einflüsse des Kaiserreichs mit seiner verhängnisvollen Übersteigerung des Nationalgefühls, der Verherrlichung militärischer Stärke und der Akzeptanz obrigkeitsstaatlicher Strukturen bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber demokratischen Defiziten und Missachtung nationaler und religiöser Minderheiten, die den Antisemitismus salonfähig machten. Wer damals studierte, trat in der Regel auch in eine Korporation ein und war später in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Kirchen in führender Position staatstragend tätig, aber dadurch auch – von Ausnahmen abgesehen – unfähig oder nicht bereit, sich dem Zeitgeist entgegenzustemmen, der tumb und martialisch für Deutschland den „Platz an der Sonne“ forderte.

Nicht einmal der Zusammenbruch der Monarchie und die weitgehend selbstverschuldete Katastrophe des 1. Weltkrieges führten in der von Korporierten dominierten Führungsschicht zu Selbstkritik und Neuorientierung. Im Gegenteil: Die Weimarer Republik scheiterte letztlich am passiven und aktiven Widerstand in Verwaltung, Justiz und Wirtschaft, an deren Schaltstellen fast überall „Alte Herren“ der Korporationen saßen, deren noch studierende Mitglieder nicht weniger reaktionär dachten und handelten.

Marburg lieferte hierfür ein erschreckendes Beispiel. Als der Kapp-Putsch 1920 die erste deutsche Republik in höchste Gefahr brachte, waren die kriegserfahrenen Mitglieder der Marburger Korporationen bereit, ihn mit militärischer Gewalt zu unterstützen. Und beim Einsatz des Marburger Studentenbataillons im gleichen Jahr gegen kommunistische Unruhestifter in Thüringen wurden 15 willkürlich festgenommene Arbeiter bei Mechterstädt von Mitgliedern einer der drei aus korporierten Studenten bestehenden Kompanien ermordet. Nur den nichtkorporierten Mitgliedern der 4. Kompanie wie Gustav Heinemann (später: Bundespräsident), Ernst Lemmer (später: Bundesminister) und Herrmann Bauer war es zu verdanken, dass die Bluttat bekannt und vor Gericht gebracht wurde. Die erwiesenermaßen rechtslastige Justiz sprach jedoch die Mörder frei! Sicherlich gibt es für andere Universitätsstädte vergleichbare Beispiele.

Die Weimarer Republik wurde von den Korporationen, in denen viele Mitglieder schon früh das Farbenband über dem Braunhemd trugen, nicht geliebt, allenfalls geduldet, überwiegend aber abgelehnt oder auch offen bekämpft. Dass die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung dennoch die Korporationen von der Gleichschaltung nicht verschonten, lieferte bei ihrer Wiedergründung nach 1945 ein willkommenes Alibi, dessen zweifelhafter Wert innerhalb der Korporationen nur selten hinterfragt wurde. Nach einer Blütezeit in den 50ern und 60ern, in der Traditionspflege, nicht aber selbstkritische Geschichtsbetrachtung betrieben wurde, verloren die Korporationen in der allgemeinen politischen Aufbruchstimmung der 60er und 70er Jahre drastisch an Attraktivität in der Studentenschaft. Heute sind sie in allen Universitätsstädten nur eine verschwindende Minderheit. In Marburg, einst eine Hochburg der Korporationen, haben die etwa 20 noch bestehenden Verbindungen allenfalls knapp 250 aktive Mitglieder, obwohl an der Philipps-Universität rund 26.000 Studierende immatrikuliert sind.

Wenn dennoch die kritische Öffentlichkeit beim Thema Korporationen allergisch reagiert, dann deshalb, weil einige von ihnen – in Marburg sind es drei, darunter die Burschenschaft Rheinfranken – durch Äußerungen und Auftreten unverkennbar an die unrühmliche Rolle der Korporationen in der deutschen Geschichte erinnern. Da hilft es wenig, dass in manchen Verbindungshäusern Mitglieder rechtslastiger Korporationen ausdrücklich als Gäste unerwünscht sind. Aber das ist für Außenstehende unbekannt. Für sie stehen Korporationen grundsätzlich unter dem Generalverdacht rechtskonservativer, vielleicht auch Pegida-naher Gesinnung. Angesichts der Gefahr, die von dem wachsenden Rechtsextremismus in der Bundesrepublik ausgeht, wird die Brecht’sche Warnung „... der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ als bedrohlich aktuell empfunden.

Selbst die „Marburger Erklärung“ von 1996, in der die eigene Tradition kritisch analysiert und das Bekenntnis zu den im Grundgesetz definierten Werten unmissverständlich und überzeugend formuliert wurde und der in anderen Universitätsstädten wie etwa Leipzig, Halle und Münster ähnliche Texte folgten, hatte vor Ort nur begrenzte Wirkung, da sie bisher nur von sechs Marburger Verbindungen als verbindliche Grundlage für ihre Mitglieder unterschrieben wurde. Die anderen dürfen sich daher nicht darüber beklagen, wenn sie weiterhin mit denen in einen Topf geworfen werden, mit denen sie eigentlich nicht gleichgesetzt werden wollen und auch nicht sollten.

Natürlich haben im politischen Spektrum der Bundesrepublik auch konservative Grundpositionen ihre Berechtigung. Allerdings sollten sich ihre Vertreter nicht scheuen, einen kritischen Blick auf die deutsche Geschichte zu werfen und das heißt, die Erkenntnisse der seriösen historischen Forschung im Hinblick auf verhängnisvolle Fehlentwicklungen zur Kenntnis zu nehmen. In Marburg waren dazu bisher leider nur sechs Verbindungen – darunter der Clausthaler Wingolf zu Marburg ‑ bereit. Schade, denn eigentlich bieten Studentenverbindungen mit ihrer überschaubaren Zahl aktiver Mitglieder und mit der Perspektive lebenslanger Freundschaft durchaus eine Möglichkeit, der Vereinzelung an einer Massenuniversität zu entgehen. Wäre ihr Ruf in der demokratischen Öffentlichkeit nicht so umstritten – ein sicherlich unberechtigtes Pauschalurteil! ‑ dann wäre ihre Akzeptanz für junge Studierende zweifellos wesentlich größer.


Erhart Dettmering, Marburger Wingolf
Artikel ist erschienen in Rote Fahnen, bunte Bänder Korporierte Sozialdemokraten von Lassalle bis heute