Burschenschafter Ferdinand Tönnies (1855-1936)

geb. am 26. Juli 1855 bei Oldeswort, gest. am 9. April 1936 in Kiel

Soziologe und Nationalökonom

Burschenschaft auf dem Burgkeller Jena

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TönniesFerdinand Tönnies – Ein Akademiker bekennt Farbe

Ferdinand Tönnies war der Begründer der deutschen Soziologie, Hobbesforscher und Gegner des Nationalsozialismus.

Jugendjahre

Ferdinand Tönnies wurde am 26. Juli 1855 in der Nähe von Oldenswort, einer damals dänischen Gemeinde in Nordfriesland, geboren. Seine Eltern waren der Grundbesitzer und Viehzüchter August Tönnies und dessen Ehefrau Ida Mau, die einer protestantischen Pastorenfamilie entstammte. Nachdem Tönnies seine ersten Lebensjahre auf dem väterlichen Gut verbracht hatte, zog die Familie nach Husum, wo Ferdinand Tönnies im Alter von 16 Jahren an der Husumer Gelehrtenschule sein Abitur mit den Fremdsprachen Griechisch, Latein, Hebräisch, Englisch, Französisch und Dänisch machte. Ab dem Sommer 1869 war er Korrekturgehilfe des Dichters Theodor Storm. 1Aus dieser Bekanntschaft entwickelte sich eine enge Freundschaft, die sich in späteren Jahren in vielen Briefen und unzähligen persönlichen Treffen manifestierte und bis zu Storms Tod anhielt. Noch zu Schulzeiten wurde Tönnies von seinem Lehrer J. Heinrich Schmidt zum Studium der klassischen Philologie angeregt.

Studentenzeit

Im Sommersemester 1872 ging er zunächst nach Straßburg, war jedoch vom dortigen Studentenleben abgeschreckt und wechselte einige Wochen später nach Jena. Hier meldete sich bei der Burschenschaft Arminia auf dem Burgkeller aktiv, in welcher er Fux wurde, wie bereits einige nähere und entferntere Verwandte in den Jahren zuvor. Er beschäftigte sich mit lateinischer Grammatik sowie Geschichtsphilosophie und frönte dem Verbindungsleben. Zwei dauerhafte Verletzungen assoziierte Tönnies später mit seiner Zeit in Jena: So zog er sich in seinem dritten Studiensemester einen Schmiss zu. Im folgenden Jahr absolvierte er seinen Wehrdienst ebenfalls in Jena. Währenddessen ließ er sich für den Winterkommers der Arminia beurlauben, auf dem er beim Erwerb des „großen Kannenordens“ eine Hinterkopfverletzung erlitt, die ihm zeitlebens Kopfschmerzen bereitete und ihn zu einem fortan umsichtigeren Lebenswandel veranlasste. 2 Forderungen, Mensur und Verbindungsleben abzuschaffen bzw. zu modernisieren, stand er kritisch gegenüber, wie er in einem unter einem Pseudonym in dieser Zeit veröffentlichtem Pamphlet schrieb.3

Nach einigen studentischen Intermezzi in Leipzig, Bonn, Berlin und Kiel promovierte er im Juni 1877 in Tübingen. Seine 44seitige, in lateinischer Sprache verfasste Dissertation trägt den Titel „De Jove Ammone quaestionum specimen“ und erhielt die Note „gut“.4

Akademische Laufbahn

Dieser akademische Abschluss stellte eine Zäsur für Tönnies’ weitere Studien dar. In den folgenden Jahren wandte er sich von der Philologie und Altertumsforschung ab und widmete er sich erneut der Philosophie; vor allem ökonomische und sozialwissenschaftliche Werke standen nun im Mittelpunkt seiner Studien. Während eines Forschungsaufenthalts 1878 in England entdeckte er sowohl im British Museum als auch im St. John’s College in Oxford bedeutende Handschriften von Thomas Hobbes, welche ein neues Verständnis der Schriften Hobbes’ zuließen.5. Ebenfalls im British Museum und nur wenige Arbeitsplätze neben ihm saß wiederholt Karl Marx, den er jedoch bewusst mied.6 1881 habilitierte Tönnies bei Benno Erdmann an der Universität Kiel mit „Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes“.

Wissenschaftliche Karriere

Ab dem Sommersemester 1882 lehrte Tönnies als Privatdozent an der Christian-Albrecht-Universität in Kiel; insbesondere Texte philosophischer Klassiker waren Inhalt seiner Vorlesungen und Seminare. Die folgenden Jahre waren außerdem geprägt von verschiedenen Reisen in das europäische Ausland.7 Im Juli 1887 erschien in einem Leipziger Verlag seine Abhandlung „Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirische Kulturformen.“ Das Buch blieb in seiner ersten, kleinen Auflage von 750 gedruckten Exemplaren laut Tönnies zunächst ein „matter Achtungserfolg“.8 1912 erschien eine zweite, deutlich stärker beachtete Auflage, danach folgten viele weitere. Das Werk galt später als „geisteswissenschaftliche Tat des 19. Jahrhunderts“, seine internationale Wahrnehmung wird als „Weltruhm“ beschrieben.9. Bis heute gilt das Werk als Klassiker und Grundlagenwerk der deutschen Soziologie.

1894 heiratete Ferdinand Tönnies die Holsteinerin Marie Sieck, mit der er später fünf Kinder hatte. Das Paar zog nach Hamburg, wenig später nach Altona. Hier entstand seine Hobbes-Biographie von 1896 sowie seine Nietzsche-Kritik von 1897. Während des Hafenarbeiterstreiks von 1896/97 stellte er sich in Sozialreportagen als wissenschaftlicher Beobachter politisch an die Seite der streikenden Arbeiter.10 Bereits 1892 hatte er die politisch arbeiterfreundliche „Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur“ mitbegründet und sich in deren Vorstand wählen lassen.11 Diese politischen Positionierungen führten dazu, dass Tönnies erst 1909 außerordentlicher Professor und 1913 ordentlicher Professor für Allgemeine Staatswissenschaften an der Universität Kiel wurde.12

Nachdem Tönnies auf der Weltausstellung in St. Louis, Missouri, eine in den soziologischen Kreisen der USA vielbeachtete Vorlesung gehalten hatte, wurde diese 1905 im „American Journal of Sociology“ veröffentlicht. Nachfolgend wurde Tönnies beratender Redakteur des Journals.13 Am 30. Januar 1909 gründete er u.a. mit Max Weber die „Deutsche Gesellschaft für Soziologie.“ Ferdinand Tönnies wurde zum ersten Präsidenten der Gesellschaft gewählt und verblieb in diesem Amt bis zu seiner Absetzung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933.

Obwohl Tönnies sich bereits 1916 emeritieren ließ, lehrte er bis 1933 an der Universität Kiel weiter.14 1921 verlieh ihm die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Hamburg, welche 1919 gegründet worden war, ihren ersten Ehrendoktor.15 1927 verlieh ihm auch die Universität Bonn einen Ehrendoktor. In den 20er Jahren erreichte Tönnies’ Popularität ihren Höhepunkt.16 Mit der Unterstützung des preußischen  Kulturministers Carl Heinrich Becker baute er die Soziologie als Lehrfach an der Universität Kiel aus.17

Ablehnung des Nationalsozialismus

Am 1. April 1930 traten Ferdinand Tönnies und seine Frau Maria im Alter von 74 bzw. 64 Jahren demonstrativ in die SPD ein, insbesondere um ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus Ausdruck zu verleihen.18 In einem offenen Brief in der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung vom 29.07.1932 nannte er das Endziel der NSDAP „die heillose Zerrüttung aller Verhältnisse“.19 Am 19.02.1933, bereits nach der Machtergreifung der NSDAP, hielt Tönnies eine „couragierte“ Rede auf einem Berliner Kongress unter dem Motto „Das freie Wort“.20

1933 wurde Tönnies sukzessive, trotz erbitterten Widerstandes, aus dem Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Soziologie heraus gedrängt, um Platz zu schaffen für einen regimefreundlichen Nachfolger.21 Tönnies distanzierte sich nicht nur nicht von seinen jüdischen Schülern, sondern trat auch für jüdische Kollegen ein. Wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ wurde er aus dem universitären Dienst entlassen. Am 9. April 1936 starb er verarmt, zurückgezogen und verfemt in Kiel.22

Ehrungen

Anlässlich seines 150. Geburtstages wurde vor dem Schloss in Husum im Jahr 2005 eine von Raimund Kittl gestaltete Büste mit dem Text „Ferdinand Tönnies / 1855-1936 / Begründer der Soziologie“ enthüllt. Ein weiteres Denkmal befindet sich in Oldenswort.

Ferdinand Tönnies, geheimer Regierungsrat, Mitglied des Republikanischen Richterbundes und der Liga für Menschenrechte, war Inhaber des finnländischen Freiheitskreuzes II. Klasse und des Verdienstkreuzes für Kriegshilfe.

Die Ferdinand-Tönnies-Schule in Husum und die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft, die Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle an der Universität Klagenfurt sowie die von der Universität Kiel verliehene Ferdinand-Tönnies-Medaille sind nach ihm benannt.

Vermächtnis

Ferdinand Tönnies gilt heute als Begründer der deutschen Soziologie. Neben einer umfangreichen Bibliothek hat er der Nachwelt mehr als 1000 schriftliche Arbeiten, darunter allein 45 Monographien, hinterlassen. Sein Hauptwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ nimmt auch im modernen wissenschaftlichen Diskurs einen bedeutenden Platz ein. Seine Forschungsergebnisse und Veröffentlichungen zu Thomas Hobbes waren von entscheidender Bedeutung für die spätere Erforschung und Auseinandersetzung von und mit Hobbes. 

 

 




1 Vgl. Lohmeier, D.: Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Ferdinand Tönnies in: Stormlektüren, Würzburg 2000, S.91ff.

2 Vgl. Kaupp, P.: Frühe Erinnerungen. Aus den Erinnerungen des Soziologen Ferdinand Tönnies an seine Studienzeit in Jena (1872/73), in: Für Burschenschaft und Vaterland. Festschrift für den Burschenschafter und Studentenhistoriker Peter Kaupp, Norderstedt 2006, S.395ff.

3 Vgl.: Tönnies, J. (i.e. Ferdinand Tönnies): Eine höchst nötige Antwort auf die höchst unnötige Frage: Was ist studentische Reform?, Jena 1875.

4 Carstens, U.: Lieber Freund Ferdinand. Die bemerkenswerte Freundschaft zwischen Theodor Storm und Ferdinand Tönnies, Norderstedt 2008, S.58.

5 Carstens, U.: Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger. 2. Auflage Bredstedt 2013, , S.77.

6 AaO, S.76.

7 Carstens, U.: Lieber Freund (Anm. 4), S.94ff.

8 Vgl. Tönnies, F.: „Selbstdarstellung“, in Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd.3, hrsg. v. R. Schmidt, Leipzig 1922.

9 Harms, B.: Reine und angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem 80. Geburtstage, Leipzig 1936, S.380.

10 Bickel, C.: Ferdinand Tönnies, in Klassiker der Soziologie Bd. 1, München 2012, S.114f.

11 Schlüter-Knauer, C.: Politik ist demokratisch, öffentlich und diskursiv. Tönnies Entwicklung eines starken Politikbegriffs und die Rolle der öffentlichen Meinung, in: Öffentliche Meinung und soziologische Theorie, Stuttgart 2015, S.152.

12 Clausen, L.: Ferdinand Tönnies (1855 – 1936), in: Christiana Albertina. Forschungen und Berichte aus der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Heft 63, Neumünster 2006, S.63/67.

13 Lützeler, P. M.: German Participation in the St. Louis World’s Fair of 1904, in Transatlantische Germanistik, Berlin/Boston 2013, S.113.

14 Clausen, L.: Ferdinand Tönnies (Anm. 12), S.63f.

15 Waßner, R.: Tendenzen der Hamburger Soziologie, in: Wege zum Sozialen. 90 Jahre Soziologie in Hamburg, Opladen 1988, S. 11.

16 Kletten, B.: Tönnies, Ferdinand, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 12, Herzberg 1997, Sp. 260-263.

17 Bickel, C.: Ferdinand Tönnies (Anm. 19), S.116.

18 Schlüter-Knauer, C.: Politik ist demokratisch (Anm. 11), S.156.

19 Rudolf, G.: Ferdinand Tönnies und der Faschismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Bd. 14, Berlin 1965, S. 341.

20 Klingemann, C.: Kleiner Service für die Leser(innen) des Aufsatzes „Gehaßt oder instrumentalisiert? Soziologie im Dritten Reich aus der Perspektive des Reichsministeriums für Wissenschaft“ (ZfS 21, Heft 5), in: Zeitschrift für Soziologe 22 (1993), Heft 2, S. 148.

21 Kleine, H.: Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie von 1922 bis 1934, in Soziologie und die Bildung des Volkes, Opladen 1989, S.122ff.

22 Carstens, U.: Ferdinand Tönnies, in Husumer Nachrichten, 12.04.2011, S.5f.

 

 

Literatur:

Bickel, Cornelius: Ferdinand Tönnies, in Klassiker der Soziologie Bd. 1: Von Auguste Comte bis Alfred Schütz, hrsg. von Dirk Kaesler, München 2012

Bickel, Cornelius: Ferdinand Tönnies. Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus,. Opladen 1991

Bond, Niall: Understanding Ferdinand Tönnies „Community and Society“. Social theory and political philosophy between enlightend liberal individualism and transfigured community, Berlin/Zürich 2013

Carstens, Uwe: Ferdinand Tönnies, in Husumer Nachrichten, 12.04.2011, S.5f.

Carstens, Uwe: Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger,. 2. Auflage Bredstedt 2013

Carstens, Uwe: Lieber Freund Ferdinand. Die bemerkenswerte Freundschaft zwischen Theodor Storm und Ferdinand Tönnies, hrsg. von Uwe Carstens, Norderstedt 2008

Clausen, Lars: Ferdinand Tönnies (1855 – 1936), in: Christiana Albertina. Forschungen und Berichte aus der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Heft 63, Neumünster 2006, S.63/67

Harms, Bernhard: Reine und angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem 80. Geburtstage, Leipzig 1936, S.380

Kaupp, Peter: Frühe Erinnerungen. Aus den Erinnerungen des Soziologen Ferdinand Tönnies an seine Studienzeit in Jena (1872/73), in Für Burschenschaft und Vaterland. Festschrift für den Burschenschafter und Studentenhistoriker Prof. (FH) Dr. Peter Kaupp, hrsg. von Bernhard Schroeter, Norderstedt 2006

Kleine, Helene: Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie von 1922 bis 1934, in Soziologie und die Bildung des Volkes, Opladen 1989

Kletten, Bernd: Tönnies, Ferdinand, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 12, Herzberg 1997, Sp. 260-263

Klingemann ,Carsten: Kleiner Service für die Leser(innen) des Aufsatzes „Gehaßt oder instrumentalisiert? Soziologie im Dritten Reich aus der Perspektive des Reichsministeriums für Wissenschaft“ (ZfS 21, Heft 5), in: Zeitschrift für Soziologe 22 (1993), Heft 2, S. 147 - 152

Lohmeier, Dieter: Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Ferdinand Tönnies in: Stormlektüren, hrsg. von Gerd Eversberg, David Jackson und Eckart Pastor, Würzburg 2000

Lützeler, Paul Michael: German Participation in the St. Louis World’s Fair of 1904, in Transatlantische Germanistik, Berlin/Boston 2013

Rudolf, Günther: Ferdinand Tönnies und der Faschismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Bd. 14, Berlin 1965

Schlüter-Knauer, Carsten: Politik ist demokratisch, öffentlich und diskursiv. Tönnies Entwicklung eines starken Politikbegriffs und die Rolle der öffentlichen Meinung, in: Öffentliche Meinung und soziologische Theorie, hrsg. von Peter-Ulrich Merz-Benz, Stuttgart 2015, S.152.

Ferdinand Tönnies: Selbstdarstellung, in Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd.3, hrsg. v. R. Schmidt, Leipzig 1922

Tönnies, Julius (i.e. Ferdinand Tönnies): Eine höchst nötige Antwort auf die höchst unnötige Frage: Was ist studentische Reform?, Jena 1875

Waßner, Rainer: Tendenzen der Hamburger Soziologie, in: Wege zum Sozialen. 90 Jahre Soziologie in Hamburg, Hrsg. Rainer Waßner, Opladen 1988

 

 

Johannes Ruppert