Systemfeinden entgegentreten

Ein Kommentar des Bundesvorsitzenden Florian Boenigk zu aktuellen politischen Entwicklungen und der Rolle von Verbindungsstudentinnen und -studenten.

Systemkritik ist nichts Neues. Als Kind in einem linken Elternhaus aufgewachsen, war die Kritik an der herrschenden Klasse oft ein Thema beim Abendessen. Später im Studium begegnete einem die Systemkritik wieder – eher nicht beim Essen, kaum an der Universität, vielmehr kam sie von rechts beim Bier auf diversen Couleurbesuchen. So stand man am Tresen auf anderen Häusern (und nicht nur bei Burschenschaften), und das Gegenüber kritisierte Parlamente, Parteien und Politiker. Es echauffierte sich über mangelnde Mitsprache oder klagte, dass alles eh schon von Elitenzirkeln oder Illuminaten entschieden sei. Schuld hieran sei das System, in neuerer Zeit das System der Altparteien, unter anderem mit ihrem „Multikulti- und Genderwahn“ sowie dem ausufernden Minderheitenschutz. Im Zuge dieser allgemeinen Kritik des politischen Systems der BRD wurden als Reformoptionen nicht selten Änderungen der vom Grundgesetz geschützten Grundrechte vorgeschlagen: Einschränkungen bei der Religionsausübung, Änderungen beim Gleichheitsgrundsatz, strengere Versammlungsfreiheiten, weniger Recht auf Asyl für politisch Verfolgte. Begründet wurde und wird diese Systemkritik, oder sagen wir treffender die Kritik an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands (FDGO), indem man das System einem noch wichtigeren Ziel unterordnet: der Rettung der deutschen Nation, die Rettung des deutschen Volkes, des „eigenen Blutes“.

GEGEN DAS SYSTEM

Mit der These der Volksrettung befindet man sich argumentativ schon weit im Feld des Populismus, denn sie funktioniert nur, indem man Ängste schürt, offenbar Schuldige nominiert und Vorurteile verstärkt. Wie sonst kann man ein apokalyptisches Szenario innerhalb der kommenden Dekaden zeichnen? Lassen wir grundlegende Fragen wie „Brauchen wir ein deutsches Volk?“, „Ist im 21. Jahrhundert der Nationalbegriff überhaupt noch aufrechtzuerhalten?“ oder „Warum Rettung? Es gibt keine Bedrohung“ mal außen vor: Die „Das- Volk-stirbt-aus-These“ ist ein durchschaubares rhetorisches Manöver, das man als Akademiker schnell dekonstruieren kann – wenn man denn will. Ich beobachte unter Verbindungsstudenten ein Nachlassen an Willen, sich dem Populismus und Parteien, die sich dieses Mittels bedienen, entgegenzustellen – obwohl die meisten Bünde Mitglieder aus allen Herren Länder aufnehmen, ohne dass ihr Bund davon auszusterben droht. Sind es nicht genau Verbindungen, die vergegenwärtigen, dass Traditionen und nationale Identität immer noch funktionieren, auch wenn der Bund multikultureller geworden ist?

AKTION STATT ANGST

Somit ist die Angst vor dem deutschen Volksverlust unbegründet. Die FDGO erhält dennoch kleine zarte Risse – verstärkt von der AfD, die, wenn man Einzelmeinungen innerhalb der jungen Partei liest, durchaus später auch fundamentale Umwälzungen mit sich bringen sollen. Um deren populistische Argumente unmittelbar zu entkräften, braucht man das Wertekonstrukt der FDGO (GG, insb. Art. 1–19) und Leitnormen, die man eigentlich mit der Reifeprüfung verinnerlicht haben sollte: „Nie wieder Auschwitz“ und „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“. Verbindungen und ihre Dachverbände, erst recht, wenn sie sich als politische Akteure verstehen, müssen die FDGO innerhalb der Korporationswelt, aber auch nach außen sichtbar verteidigen. Korporationen dürfen nicht ein Erholungsbecken für Populismus sowie eine Brutstätte für Systemkritik an und außerhalb der FDGO sein (genauso wenig, wie manche linke studentische Gruppen an Universitäten in ihrer demokratiefeindlichen Systemkritik protegiert und unterstützt werden dürfen).

WÄCHTER DER DEMOKRATIE SEIN

Studentenverbindungen sollten als wachsame Wächter der Demokratie innerhalb der akademischen Welt fungieren. Sicherlich ist die Korporationswelt konservativ, und viele Traditionen entstammen aus einer monarchischen Zeit. Auch lebt es sich bequem hinter den dicken Mauern des eigenen Hauses, wo selten etwas nach außen dringt. Aber das Haus ist kein grundgesetzfreier Raum, wo die Meinungsfreiheit universal ist und jede politische Äußerung als Privatheit oder Gedankenexperiment abgetan werden darf. Wer sich zur Elite des Landes zählt, und das tun Verbindungen, muss von den eigenen Mitgliedern erwarten, dass sie – auch adH – einschreiten, wenn Äußerungen gegen die FDGO aufkommen oder die Diskussionen in GG-feindliche Bahnen gelenkt wird. Kritik am politischen System ist wichtig und notwendig, aber das System von Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg muss unangetastet bleiben.

Erschienen in den Akademischen Blättern, Ausgabe 1/2018