Vierter Brief

Lieber Florian,

vielen Dank für Deine ausführliche Stellungnahme. Freiheit als Grundwert einer freiheitlichen Gesellschaft (und auch unserer sozialdemokratischen Partei) ist nur dann vollwertige Freiheit, wenn zwei Aspekte gesichert sind: negative und positive Freiheit. Im Zuge einer überschießenden Interpretation der Menschenrechte dominiert aktuell allzu häufig die positive über die negative Freiheit. Dies führt zu einem Paradox: Unsere gegenwärtige Gesellschaft hält sich für liberal – ist es aber in vielen Fällen nicht mehr.

Der pluralen, spätmodernen Gesellschaft scheint die Fähigkeit abhandengekommen zu sein, sich über das rechte Maß zu verständigen. Stattdessen versucht man, durch ein immer Mehr an staatlicher oder gesellschaftlicher Steuerung das rechte Maß herzustellen. Das Zusammenleben wird restriktiver, da bestimmte Wertorientierungen äußerst subtil durchgesetzt werden, und zwar durch inhaltlich detailreiche, positiv gefüllte Vorgaben, durch soziale Verhaltenserwartungen und Normvorstellungen, die ins Übermaß gesteigert werden.

Auch die Vereinsfreiheit umfasst zweierlei: Das Recht, nicht willkürlich ausgeschlossen zu werden, aber auch das Recht, sich frei zu vergemeinschaften. Wenn Vereine über ihre Zusammensetzung nicht mehr frei entscheiden können, verkehrt sich die Vereinsfreiheit in ein Instrument staatlich-gesellschaftlicher Kollektivierung. Die Vereinsfreiheit dient dazu, unterschiedliche Vereinigungen zu gründen, die sich in der Zielsetzung, in ihrem Charakter, in ihrer Arbeitsweise und in ihrer Zusammensetzung voneinander unterscheiden. Das unterscheidet gesellschaftliche Vereine von anderen Vereinigungen mit Zwangsmitgliedschaft (zum Beispiel Kammern oder verfassten Studentenschaften).

Historisch gibt es zahlreiche Zufälligkeiten und Ungleichzeitigkeiten. Das sehen wir an der Entwicklung der Korporationen sehr deutlich. Ich werde mich jederzeit für Damenverbindungen stark machen und auch für gemischte Verbindungen, wenn diese das so beschlossen haben – aber eben nur als ein Modell neben anderen. Selbst würde ich mich keiner gemischten Verbindung anschließen. Aber genau das macht Freiheit aus: selbst entscheiden zu können, welcher Form von Vereinigung man beitreten möchte. Wenn es diese Wahlfreiheit nicht mehr geben dürfte, wäre die Freiheit zerstört.

Es kann weder Aufgabe des Staates noch einer Partei sein, ein bestimmtes Korporationsmodell dadurch zu befördern, dass man anderen Formen die gesellschaftliche Berechtigung abspricht. Dass Damenverbindungen längere Zeit brauchen werden, eine genauso lange Tradition zu entwickeln, als so mancher Männerbund, ist eine historische Tatsache, aber keine Ungerechtigkeit. Die Frage grundsätzlicher Wahlfreiheit und Chancengerechtigkeit stellt sich im Blick auf die Möglichkeit, in einer freiheitlichen Gesellschaft grundsätzlich eigene Vereinigungen gründen und diese frei von politischer Bevormundung ausgestalten zu können. Es gibt kein Recht, in einen ganz bestimmten Verein aufgenommen zu werden. Denn meine Rechte enden stets an der gleichen Freiheit der anderen.

Pädagogisch wie bildungspolitisch müssen wir immer mit faktischer Ungleichheit umgehen. Dabei geht es um Chancengerechtigkeit. Diese lässt sich nur im komplementären Zusammenspiel unterschiedlicher Prinzipien verwirklichen – grob lassen sich vier unterscheiden: Es geht um Nichtdiskriminierungsfreiheit (daher ist zum Beispiel der Einsatz für das Frauenstudium ein zutiefst freiheitliches und auch sozialdemokratisches Anliegen), aber auch um Ungleichbehandlung dort, wo dies aufgrund unterschiedlicher Interessen und Bedürfnisse notwendig ist. Schließlich geht es um Freiheit von staatlicher Bevormundung, damit jeder seinen eigenen Lebensplan verwirklichen kann. Und es geht um Abwehr von Zwang, sowohl durch staatliche Bevormundung als auch durch übermächtige gesellschaftliche Kollektive. Die politische und sozialethische Kunst besteht darin, jeweils zu entscheiden, welches Prinzip angemessen ist.

Ich weiß, dass ich damit in ein Wespennest steche. Aber Quotenregelungen widersprechen dem vorstehenden Verständnis von vielgestaltiger Chancengerechtigkeit, weil hier die individuellen Freiheitsansprüche der einen kollektiv verrechnet werden mit Gleichheitsansprüchen der anderen – und das ist nicht gerecht, da die erstrebenswerte Diskriminierungsfreiheit mit unlauteren Zwangseingriffen in die Freiheit anderer erkauft wird (auch stellen Quoten die Leistungsfähigkeit eines Bereiches in Frage, wenn unsachgemäße Kriterien bei der Personalauswahl bestimmend werden).

Warum sträube ich mich so vehement gegen gemischte Verbindungen? – Verbindungen sind ein lebenslanger Freundschaftsbund. Mit Eintritt binde ich mich lebenslang an eine Gemeinschaft. Dann muss ich mir aber auch sicher sein, dass diese Gemeinschaft nicht grundlegend ihr Wesen verändert. Ein lebenslanger Freundschaftsbund braucht – anders als ein bloßer Verein oder eine Interessengemeinschaft – ein gemeinsames Fundament, sonst kann man sich nicht gegenseitig lebenslange Freundschaft versprechen.  Dieses Fundament kann unterschiedlich aussehen: eine gemeinsame Konfession (zum Beispiel bei katholischen Verbindungen), eine gemeinsame fachliche Ausrichtung (zum Beispiel bei Jagdverbindungen, Sängerschaften) und so weiter – oder eben ein gemeinsames Geschlecht. Männliche, weibliche oder gemischte Verbindungen haben jeweils einen anderen Charakter, das merkt man an der Gesprächs-, Feier- und Diskussionskultur. Wenn sich die Geschlechterzusammensetzung ändert, verändern sich auch Charakter und Identität der Verbindung. Und es ist gut, dass es diese Unterschiede gibt. Jeder mag dann selbst entscheiden, wo er mitmachen möchte.

Volksparteien waren darauf angelegt, unterschiedliche Flügel in sich zu vereinigen und Radikalisierung zu vermeiden (was ihnen dann auch den Vorwurf von "Allerweltsparteien" eingebracht hat). Da mag es dann Richtungen geben, die sich liberaler oder egalitaristischer orientieren. Solange beide Alternativen nicht einseitig in eine Richtung aufgelöst werden, belebt dies den politischen Prozess. Die Jusos lösen allerdings das Verständnis sozialdemokratischer Politik zunehmend radikaler in Richtung eines egalitaristischen Staats- und Gesellschaftsmodells auf, mit totalitären Zügen. Ich hoffe, dass es unserer Partei weiterhin gelingt, für Freiheit und Gleichheit gleichermaßen zu streiten. Freiheit bleibt auf Dauer nur in maßvollen Systemen erhalten, das lehrt auch die Geschichte unserer Partei. Nur eine plurale Gesellschaft, die unterschiedliche Lebensmodelle zulässt, wird auf Dauer eine lebenswerte bleiben. Mag sein, dass das liberal klingt – es ist meines Erachtens sozialdemokratischer, als viele gegenwärtig meinen. Denn der Liberalismus kann ebenfalls freiheitsfeindlich und ungerecht werden – und zwar dann, wenn er einseitig die Freiheit betont.

Und ich  wünsche mir einen Lassalle-Kreis, der unterschiedliche Formen des Verbindungslebens wertschätzt und sich dafür einsetzt, dass diese Vielfalt auch von einer großen Volkspartei anerkannt wird – zum Wohle der eigenen Mitglieder, der gesellschaftlichen Bindekraft der Partei und auch zum Wohle der Gesellschaft.


Mit herzlichen, farbenbrüderlichen und solidarischen Grüßen

Dein Axel Bernd Z! Z!