„Wenn die Revolte gegen die ererbten Traditionen universell wird, werden wir uns bald wieder in den Höhlen befinden“

Dieter Eckert, kommissarischer Leiter des SchwarzburgbundsFestrede von Dieter Eckert, des kommissarischen Vorsitzenden des Schwarzburgbundes, anlässlich des Lassalle-Kommerses zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Lassalle-Kreises am 6. August 2016 in Tübingen.

Zunächst bedanke ich mich sehr herzlich für die freundliche Einladung zu Ihrem heutigen Kommers und für die Möglichkeit, zu Ihnen zu sprechen.

Namens des Schwarzburgbundes und seiner Mitgliedsverbindungen gratuliere ich Ihnen herzlich zum 10-jährigen Jubiläum des Lassalle-Kreises. Ihre Vereinigung erfüllt eine wichtige Funktion. Indem Sie das Korporationswesen in Deutschlands ältester Partei verankern und immer wieder für eine differenzierte Betrachtung der Verbindungslandschaft werben, ja kämpfen, verschaffen Sie unseren Ideen Öffentlichkeit und tragen wesentlich dazu bei, die historische Kontinuität zu zeigen, in der wir arbeiten.

Wenn ein SBer an korporierte Sozialdemokraten denkt, kommt sofort Ernst Reuter ins Spiel. Der große Regierende Bürgermeister gehörte  zunächst der Marburger Frankonia und dann der Münchener Herminonia an, beide Mitgliedsverbindungen des Schwarzburgbundes. Er ist freilich  nach einigen Jahren im Streit ausgetreten,  und die Gründe dafür sind bis heute interessant. Reuter war Zeit seines Lebens ein Politiker, der bei allem Pragmatismus auf einem festen philosophischen Fundament agierte, in seinem  Falle die Ideen des Neukantianismus und die Ableitung eines christlichen Sozialismus. Diese Ideen und die daraus folgenden politischen Maximen wollte er in seiner Verbindung diskutieren. Außerdem wollte der Abstinenzler Reuter einen Verbindungsbetrieb durchsetzen, bei dem nicht gesellige Vergnügungen und Alkoholkonsum im Mittelpunkt stehen sollten, sondern nach heutigen Begriffen allgemeinbildende Vorträge, Diskussionen und Gespräche, in denen der erzieherische Auftrag der Verbindung gelebt werden solle. Die in der damaligen Verbindungsszene vorherrschende deutschnationale Ausrichtung, vor allem die unkritische Bismarckverehrung lehnte er entschieden ab. Kommt Ihnen das Alles bekannt vor?  Führen Sie entsprechende Diskussionen in Ihren Verbindungen und Bünden?

„Nichts Neues unter der Sonne“ könnte man jetzt sagen, Schnee von gestern. Eine Fragestellung, ein Problem wird aber durch Wiederholung  nicht zwingend belanglos, sonst hätte man beispielsweise die soziale Frage schon längst beerdigen müssen. Nein, als politische Menschen wie als Korporierte müssen wir uns auf bestimmte Fragestellungen immer wieder einlassen, da wir keine reine philosophische Spekulation betreiben sondern in unserer (ergänze: jeweiligen) Zeit bestehen wollen und bestehen müssen. Deshalb die Frage, was Verbindungen in unserem, im 21. Jahrhundert ausmacht. Lassen Sie mich das an einigen ausgewählten Themen erläutern.

Erstens.

Praktisch jede Verbindung bejaht für sich einen Erziehungs- und Bildungsauftrag, Sie können hierzu die Grundsätze nahezu jeder beliebigen Korporation konsultieren. Die Formulierungen differieren im Detail, aber der Anspruch ist derselbe. Die Erfüllung dieser Aufgabe freilich ist zeitgebunden und  hängt sehr stark von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab, die heute mit Sicherheit völlig andere sind als zur Zeit der Entstehung des deutschen Korporationswesens, also Mitte des 19. Jahrhunderts.      

Anders als damals ist das Studienwesen heute stark verschult, die vielgerühmte akademische Freiheit, ein im Lichte Humboldt’scher Ideale breit angelegter Wissensansatz weit weg. Dem gegenüber steht eine Überfülle an Informationsmöglichkeiten, ein Wust von Tatsachen, Tatsachenbehauptungen und Meinungen, die schwer zu durchschauen und noch schwerer zu systematisieren und kritisch zu bewerten sind. Die Versuchung, sich auf Google, Wikipedia und „Schwarmintelligenz“ zu verlassen ist groß, die Möglichkeiten zur Manipulation riesig.

„Sapere aude-Wage es, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“

schreibt Immanuel Kant 1784 in seinem berühmten Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung.“  Auf die Frage, warum viele Menschen dies trotz gebotener Möglichkeiten unterlassen gibt er eine klare Antwort, indem er dieses Verhalten schlicht auf  „Faulheit und Feigheit“ zurückführt. Der ständige Rekurs auf dieselben Suchmaschinen, der Verzicht auf Quellenkritik, Auswendiglernen statt Verstehen und zu guter Letzt die unsägliche Rede von „alternativloser Politik“: hat das alles nicht auch mit Faulheit und Feigheit zu tun?  Die Väter der Urburschenschaft jedenfalls wollten den streitbaren Selbstdenker, den auch unsere heutige  Gesellschaft braucht. Die spannende Frage: Wie kommen wir hin und was können Verbindungen beitragen? Hierzu ein paar Beispiele:

Die Fähigkeit zu systematischer Recherche außerhalb der gängigen zwei oder drei Suchmaschinen wäre ein wichtiges Thema interner Veranstaltungen um der (systematischen?) Verengung durch Wikipedia und Google entgegenzutreten.

Regelmäßige Veranstaltungen zu historischen (nicht nur studentenhistorischen) und zeitgeschichtlichen Themen sind vonnöten, denn sie helfen bei der selbständigen Urteilsfindung und leider auch beim Ausgleich schulischer Defizite. Wichtig ist dabei, dass in jedem Falle Gelegenheit zu gerne auch kontroverser Diskussion gegeben wird. In diesem Zusammenhang sollte ein Fuxenreferat zum völlig selbstverständlichen Kanon gehören.

Auch die Einladung von Personen außerhalb des korporativen Dunstkreises zu Vorträgen oder Festreden hilft bei der Erweiterung des Horizontes. Wenn  man sich dann auch noch die Genehmigung geben lässt, die Manuskripte in der Verbindungszeitschrift und/oder auf der Homepage zu veröffentlichen, besteht auch die Möglichkeit, nach außen zu wirken.

Und keine Bange: das Gemeinschaftsleben muss dabei nicht zu kurz kommen, den feiern, das können wir auf jeden Fall.

Zweitens.

Der Umgang mit Traditionen sollte man meinen, ist für Korporierte eine glatte Selbstverständlichkeit, denn Traditionspflege ist für Verbindungen so etwas wie eine raison d‘être.  Aber weit gefehlt: Nicht nur gibt es Streit zwischen einzelnen Korporationen bzw. Dachverbänden und Bünden, nein, auch innerhalb vieler Verbindungen wird über den Umgang mit Traditionen gerungen, oftmals mit einer Härte, die den Bestand dieser Korporationen gefährdet. So einfach ist es also nicht. Der polnische Philosoph Lezek Kolakowski hat den Grundkonflikt einmal so skizziert: 

„Hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbten Traditionen revoltiert, würden wir heute noch in Höhlen sitzen. Wenn die Revolte gegen die ererbten Traditionen universell wird, werden wir uns bald wieder in den Höhlen befinden.“

Folgt man diesem Ansatz, handelt es sich beim Umgang mit Traditionen um einen dialektischen Prozess, dessen Pole kritiklose Übernahme und ebenso unreflektierte Verwerfung sind. Diese Dialektik prägt den Umgang mit Traditionen jeder Art, seien sie gesellschaftlicher, politischer oder auch religiöser Natur. Haltungen, die Traditionen mit großer Geste über Bord werfen, ohne dieses Handeln zu reflektieren,  können mit Haltungen, die Traditionen unreflektiert bewahren wollen, hart kollidieren. Die Frage, was Traditionen bedeuten und warum es Menschen gibt, die sehr fest an Überkommenem festhalten, gerät dabei schnell unter die Räder. Solche Konflikte bergen aber auch gesellschaftlich erheblichen Zündstoff.

Musterbeispiel für diese Konflikte in Verbindungen ist die sogenannte „Damenfrage“. Bevor ich dieses Thema erörtere, braucht es eine Vorbemerkung. Vor Ihnen steht einer, der aktiv daran beteiligt war, dass seine  Verbindung seit 1986 Damen aufnimmt – sie floriert übrigens fröhlich - und der gegenwärtig einem Verband nichtschlagender Verbindungen vorsteht, unter dessen Dach es gemischte Bünde, reine Männerbünde und eine Damenverbindung gibt. Das verleiht möglicherweise einen spezifischen Blick. Dennoch: befasst man sich etwas näher mit der Frage was hinter der Tradition des reinen Männerbundes steht, kommen viele Argumente gegen gemischte Bünde, aber sehr wenig Argumente für den reinen Männerbund. Deshalb bleiben wir doch einfach bei den Tatsachen: Für den reinen Männerbund spricht sicherlich der Umstand, dass es zu der Zeit, in der das Verbindungswesen entstand, schlicht keine Frauen an Universitäten gab und dass daran anknüpfend in manchen Fällen über mehr als 150 Jahre hinweg spezifische Traditionen gewachsen sind, die als a priori erhaltenswert gelten. In Fällen von konfessionell, vor allem katholisch ausgerichteten Verbindungen mag noch hinzukommen, dass das Verbindungsleben möglichst frei von geschlechtlichen Verirrungen gehalten werden soll. Für die Aufnahme von Damen spricht ein Hauptargument, das im Zuge der Diskussion in meiner Vandalia ein damals schon über 80-jähriger Bundesbruder auf die Formel brachte:

Selbst in Preußen seien Frauen spätestens seit 1919 zum Studium zugelassen und es werde Zeit, dass die Verbindungen diese Entwicklung nachvollziehen.

Ergänzend lässt sich hinzufügen, dass in gemischten Verbindungen wohl ein Sozialverhalten eingeübt werden kann, das näher an der gesellschaftlichen Wirklichkeit unserer Tage ist.  Alle übrigen Argumente pro und contra sind im Grunde schmückendes Beiwerk. Wichtig ist dagegen, dass die Frage Männerbund/gemischte Verbindung offenkundig für die Beziehung  vieler Beteiligter zu Ihrer jeweiligen Verbindung elementar ist und dass andererseits weder von Männerbünden noch von gemischten Verbindungen irgendeine Gefahr ausgeht, am wenigsten gegenseitig. Wie wäre es deshalb, wenn wir einfach akzeptieren, dass die Verbindungslandschaft ist wie sie ist, und dass  Vielfalt ein Gewinn ist, der nicht zuletzt der Darstellung der Verbindungslandschaft  nach Außen nur nutzen kann? Wenn wir dahin kommen, dass ein solcher verantwortungsbewußter Umgang mit Traditionen mehrheitsfähig  nicht nur in Verbindungen wird, wenn klar wird, dass wir Vielfalt aushalten und anhand klarer regeln gestalten wollen, dann können Verbindungen sich mit Fug und Recht als Modell, vielleicht auch als Labor einer funktionierenden Gesellschaft im Kleinen bezeichnen.

Drittens.

Es gibt ein Diktum, das untrennbar mit dem Namen eines sozialdemokratischen KVers verbunden ist: das sogenannte Böckenförde-Dilemma:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

So hat der große korporierte Sozialdemokrat Ernst-Wolfgang Böckenförde, bei dem ich selbst noch Staatsrecht und Staatslehre hören durfte, dieses Paradoxon umschrieben. Viele haben dem bekennenden Katholiken Böckenförde unterstellt, es gehe ihm nur um die Rolle der Kirchen, aber heute, über 40 Jahre nachdem dieser Satz erstmals erschien ist klar, dass viel mehr dahintersteckt. Die gesamte Gesellschaft, jeder einzelne ist aufgerufen daran mitzuwirken, dass die Voraussetzungen, auf denen unser Staatswesen aufbaut, erhalten bleiben, denn der Staat selbst, will er freiheitlich bleiben, kann dies nicht. Hierzu gehört eine aktive Gesellschaft, deren Glieder sich einmischen und engagieren,  eine Gesellschaft in der ein freies Wort als Bereicherung empfunden wird, eine Gesellschaft, in der Solidarität ebenso bestimmend ist wie der Respekt vor geltenden Regeln. All  dies braucht es umso mehr, je heterogener eine Gesellschaft ist, denn mit der Heterogenität nehmen die Zentrifugalkräfte tendenziell zu.  Deutschland ist heute bedeutend heterogener als vor 40 Jahren und diese Heterogenität wird in den nächsten Jahren noch wachsen. Die gesellschaftlichen Kräfte, die als Bindekräfte benötigt werden, sind ihrerseits darauf angewiesen, dass grade junge Menschen die eben beschriebene Haltung besitzen. Auch hier kommt uns als Verbindungen eine wesentliche Aufgabe zu. Wir können und wir müssen Gemeinschaftsfähigkeit vermitteln. Wir können vermitteln, dass und wie das Mehrheitsprinzip funktioniert und wie man mit Niederlagen umgeht, wir können den Lebensbund als gelebte Solidarität ausgestalten und vor allem: wir haben mit diesen Dingen viel Erfahrung! Und vielleicht können wir ja noch mehr tun. Ich kenne zum Beispiel mindestens einen Fall, bei dem eine Verbindung nicht belegte Buden für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt hat. Und wie wäre es beispielsweise mit hands-on-projekten im Umwelt- oder Sozialbereich zum Beispiel Quartiersputzeten oder Mitwirkung bei der örtlichen Tafel? Ende der 20er Jahre gab es Korporationen, die Suppenküchen unterhielten. Mit derartigen Projekten kommen wir heraus aus dem quasi-akademischen Elfenbeinturm, vermitteln soziale Kompetenz und tun etwas fürs Marketing! 

Korporierte haben in der SPD bisweilen einen schweren Stand, Diskussionen über Unvereinbarkeitsbeschlüsse flammen immer wieder auf  und „fremdeln“ ist noch eine freundliche Umschreibung des Verhältnisses vieler SPD-Mitglieder zu korporierten Genossen.  Sie vom Lassalle-Kreis haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Korporationen, ihre Vielfalt und Traditionen in diese Partei hineinzutragen und denjenigen entgegenzuwirken, die die vielgestaltige Verbindungslandschaft auf DB und BG reduzieren wollen. Eine schwierige Aufgabe, die Kraft und manchmal gute Nerven erfordert. Andererseits ist die Sozialdemokratie ja selbst zu Recht durchaus traditionsverbunden, wie nicht nur die Fahnen und die Bebel-Uhr eindrücklich demonstrieren, sondern auch ein Blick in die heutige Liedfolge. Deshalb teile ich Ihre Auffassung, dass sich Verbindungsstudententum und SPD-Mitgliedschaft keineswegs grundsätzlich ausschließen. Und vielleicht müssen Sie bei Ihrem beharrlichen Werben für unsere Ideen immer das Wort von Albert Camus im Hinterkopf haben:

„Wir müssen uns Sysiphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Abschließend wünsche ich Ihnen allen, Ihren Verbindungen, Bünden und Dachverbänden und zu allererst natürlich dem Lassalle-Kreis ein herzliches „Vivat, crescat, floreat in aeternam“